Aufbruch nach Digital- Deutschland

Die deutsche Wirtschaft ist innovationsstark und weltweit führend im Bereich Industrie 4.0. Auch für den nächsten Schritt der Digitalen Transformation, den Einsatz Künstlicher Intelligenz, sind die Voraussetzungen ideal.
Illustration: Mario Parra
Klaus Lüber Redaktion

Dringenden Handlungsbedarf gibt es allerdings in der Bereitstellung einer robusten digitalen Infrastruktur.

 

Beginnen wir mit einer positiven Nachricht: Deutschland ist Innovationsweltmeister. Kein anderes Land auf der Welt, das besagt jedenfalls der aktuelle Global Competitiveness Report des Weltwirtschaftsforums (WEF), bietet bessere Voraussetzungen, um innovative Prozesse von der Idee bis zur Vermarktung zu bewältigen. Das WEF lobt insbesondere das starke Netzwerk an Universitäten, außeruniversitären Forschungsinstituten und Firmen sowie die produktive Rolle der Gewerkschaften. Außerdem, so der Report, verfüge Deutschland über äußerst anspruchsvolle Käufer, was Firmen im Forschungs- und Entwicklungsbereich besonders motiviere.

 


Was das weite Feld der sogenannten Digitalen Transformation angeht, spielt Deutschland seine Innovationskraft aktuell vor allem im Bereich der industriellen Fertigung aus. Seit 2011 im Rahmen der Hannover Messe die vierte industrielle Revolution ausgerufen und der Begriff Industrie 4.0 geprägt wurde, tüfteln deutsche Forschungseinrichtungen und Unternehmen intensiv am Einsatz digitaler Technologien in der Produktion. Dazu wird die gesamte Wertschöpfungskette mit Sensorik ausgestattet, gewissermaßen vernetzt, um ein virtuelles Abbild ihrer Selbst zu erzeugen: den „Digital Twin“.

 


Wie weit diese Entwicklung fortgeschritten ist, war vor kurzem etwa auf der SPS IPC Drives in Nürnberg zu sehen, Europas führender Fachmesse für Automatisierung. Dort stellte die Firma Siemens ihre Digital Enterprise Suite vor, ein Konzept zur „Erstellung Digitaler Zwillinge“, wie es das Unternehmen selbst ausdrückt. Gemeint ist ein exaktes virtuelles Modell eines Produkts oder einer Produktionsanlage, das die Entwicklung über den gesamten Lebenszyklus abbildet und die Vorhersage des Verhaltens, die Optimierung der Performance und das Umsetzen von Erkenntnissen aus früheren Design- und Produktionserfahrungen ermöglicht.


Es geht also zunächst um Effizienzsteigerung. Die erhobenen Daten können zum Beispiel dafür eingesetzt werden, teure Maschinen in ihrer Performance besser zu überwachen und mögliche Ausfallrisiken zu minimieren und Fehlerquoten zu senken. In seinem Werk im fränkischen Amberg hat Siemens die Technologie bereits implementiert. Dort kann der Werksleiter den gesamten Produktionsprozess überwachen. Dazu ist jedes Bauteil einzeln identifizierbar. Beispielsweise wird festgehalten, wann was in welcher Maschine bei welcher Temperatur gelötet wurde oder welches Drehmoment die Maschine gerade hatte. So kommen jeden Tag mehr als 50 Millionen Datensätze zusammen. Die Daten werden live ausgewertet und die Produktion umfassend analysiert. Die Prozessqualität im Werk liegt bei 99,9988 Prozent.

 


Für Key Pousttchi, Professor für Wirtschaftsinformatik und Digitalisierung an der Universität Potsdam, ist das aber nur eine von insgesamt drei Dimensionen der Digitalen Transformation. „Was in einer Smart Factory passiert, ist vor allem durch das sogenannte Leistungserstellungsmodell beschreibbar“, so der Experte. „Vereinfacht gesagt geht es darum, die Unternehmensorganisation an die digitale Welt anzupassen.“ So richtig spannend werde es dann bei Dimension Zwei und Drei, dem Leistungsangebots- und Kundeninteraktionsmodell. „Hier sehen wir, welche neuen Produkte und Geschäftsmodelle durch die Nutzung von Daten entstehen und wie sich dies auf Business- und Endkunden auswirkt.“

 


Ein Musterbeispiel hierfür ist die 2017 gegründete Speedfactory des Sportartikelherstellers Adidas im fränkischen Ansbach. In der vollautomatisierten, von Robotern geführten Fabrik werden die Daten der späteren Nutzer dafür verwendet, die Schuhe in der Produktion optimal an die Designvorstellungen und anatomischen Eigenheiten der Träger anzupassen. Durch die direkte Umsetzung vom Entwurf in die digitalisierte Fertigung, auch unter dem Einsatz von 3D-Druckern, verkürzt sich die Produktionszeit in der Schuhherstellung dramatisch. Das macht Adidas hochflexibel in der Reaktion auf sich verändernde Kundenwünsche.


Ein großes Transformationspotenzial misst Pousttchi auch der Medizinbranche zu. „Die Analyse von Daten könnte es schon sehr bald möglich machen, bestimmte Krankheiten ganz neu zu interpretieren. Vielleicht verstehen wir dann, dass es sich beim ein oder anderen Leiden in Wirklichkeit um viele einzelne Krankheiten handelt – die wir dann natürlich jeweils viel intensiver mit eigens dafür entwickelten Medikamenten behandeln können.“ Dazu müsste man die Daten nicht nur im großen Stil sammeln, sondern am Ende natürlich auch richtig interpretieren. Und deshalb kommt an dieser Stelle eine weitere wichtige technische Entwicklung ins Spiel: Künstliche Intelligenz.

 


Gemeint sind sogenannte Machine-Learning-Systeme, die so lange mit gigantischen Bergen an Informationen gefüttert werden, bis sie zu komplexen Mustererkennungsprozessen fähig sind. In der Medizin führt das zu Anwendungen wie etwa der Identifizierung von Augenkrankheiten via 3D-Scans. Die Google-Schwester Deepmind hat eine Anwendung entwickelt, die in diesem Bereich schon jetzt genauso gut arbeitet wie ein Facharzt. Lernende Algorithmen werden inzwischen auch zur Hautkrebserkennung eingesetzt und weisen dort inzwischen sogar eine höhere Trefferquote auf als Fachärzte, wie ein Team der Uni Heidelberg vor kurzem gezeigt hat.
Dezidiert industrielle Einsatzmöglichkeiten für KI sind beispielsweise die Überwachung von Energieübertragungs- und -verteilnetzen. Mit ihrer Hilfe werden Netzlasten und Einspeisung regenerativer Energien prognostiziert. Auch bei der Überwachung von Maschinen, wie sie bei Siemens in Amberg zum Einsatz kommen, der sogenannten Predictive-Maintenance, kommt KI zum Einsatz. Eine Machine-Learning-Software lernt aus historischen und aktuellen Daten wie Schwingungsmessung, Spannungsverlauf, Temperatur und Druck und kann daraus erkennen, wann eine Maschine auszufallen droht. Das erlaubt ein rechtzeitiges Eingreifen und ermöglicht eine Maschinenwartung mit minimalem Aufwand.

 


Inzwischen wird Deutschland gerade in der Kombination von Industrie 4.0 und KI ein großes Potenzial bescheinigt. „Deutschland muss sich bei KI nicht hinter den USA und China verstecken“, betonte etwa Professor Wolfgang Wahlster, CEO des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), vor kurzem gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Und selbst KI-Pionier Chris Boos, als Chef der Firma Arago ein Vertreter der Industrie, die sich sonst eher kritisch zum Stand der Digitalisierung äußert, ist davon überzeugt, dass kaum ein Land derart gute Voraussetzungen hat, um KI für seine Wirtschaft nutzbar zu machen. „Anders als in China oder den USA verfügen wir in Deutschland über die gesamte Wertschöpfungskette der Industrie und damit über enormes Wissen. Es kommt nun darauf an, dieses Wissen für die KI einzusetzen und mit deren Hilfe Produkte zu verbessern und Produktionsprozesse zu automatisieren“, wird Boos ebensfalls von der Süddeutschen Zeitung zitiert.

 


Leider ist bis dahin noch ein wenig Strecke zurückzulegen. Derselbe WEF-Report, der Deutschland so lobte für seine Innovationskraft, zeigte auch klar auf, wo es noch Nachholbedarf gibt: Was die Annahme von Informationstechnologie angeht, belegt Deutschland lediglich den 31. Platz. Lücken gebe es etwa in der Bereitstellung von Breitbandtechnologie, insbesondere im mobilen Bereich.


Für Professor Pousttchi ist das keine Überraschung: „Wenn ich mir anschaue, was aktuell bei der 5G-Lizenzvergabe passiert, mache ich mich schon ein bisschen Sorgen.“ Wer Infrastruktur nach dem Wettbewerbsverfahren vergebe, wie das im Bereich der digitalen Netze gerade passiere, dürfe sich am Ende nicht wundern, wenn ein flächendeckendes Netzwerk nur sehr schwer zu realisieren sei, so der Experte. „Was wir stattdessen zu erwarten haben, sind vier bis fünf parallele, nicht flächendeckende Netze. Das ist aber absurd, wir betreiben schließlich auch nicht fünf Wasser-, Schienen und Autobahnnetze gleichzeitig. Hier bräuchte die Politik dringend einen anderen Ansatz.“


In der Verantwortung der Unternehmen wiederum liegt das Thema Datenschutz. Hier hat die Politik vorgelegt, mit der Einführung der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) steht ein effizientes Regelwerk zum Schutz personenbezogener Daten zur Verfügung. In der datengetriebenen Produktionsumgebung der Industrie 4.0 lässt sich nicht verhindern, dass auch in der Fertigung solche Daten anfallen. Zwar sind etwa Informationen über den Betrieb einer Maschine selbst nicht personenbezogen, werden es aber, wenn man die Daten etwa mit dem Schichtplan der Mitarbeiter abgleicht. „Denn dann weiß ich genau, zu welcher Uhrzeit welcher Mitarbeiter an der Maschine gearbeitet hat“, so Christian Hess, Rechtsanwalt beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), gegenüber produktion.de. Für Unternehmen ist ein umfassendes Datenschutzkonzept deshalb inzwischen Pflicht, auch um Produktionsabläufe durch potenzielle Widerrufe nicht zu gefährden.
Während viele Wirtschaftsverbände nach wie vor warnen, die DSGVO
würde die Dynamik der technologischen Entwicklung hemmen und Deutschland gegenüber Ländern wie den USA oder China vor allem im Bereich KI weiter zurückfallen lassen, verteidigen inzwischen viele Experten den europäischen Weg. Statt Länder wie China zu kopieren, müsse Deutschland zusammen mit anderen europäischen Partnern die Chance nutzen, einen humanistischen oder ökologischen Ansatz in diese Technologien einzubringen. „Wir werden sehen, dass die KI benutzt wird, um das repressive chinesische politische System und die US-Konsummaschine zu stärken, anstatt sie für höhere gesellschaftliche Ziele einzusetzen. Nur wenn sich Europa zusammentut, werden wir in der Lage sein, der Welt KI-Technologien anzubieten, die anders sind, die Privatsphäre und die Menschenrechte respektieren und uns helfen, die Umwelt zu schützen“, so der Wissenschaftsjournalist Christian Schwägerl gegenüber dem Vodafone Institut für Gesellschaft und Kommunikation. ■