Das zweite Gehirn

Der Darm ist ein sensibles Ökosystem, das in seiner Bedeutung lange unterschätzt wurde.
Illustration: Anna Ruza
Dr. Ulrike Schupp Redaktion

„Er bildet zwei Drittel des Immunsystems aus, holt Energie aus Brötchen oder Tofu-Wurst und produziert mehr als zwanzig eigene Hormone.“ Der Darm ist ein unterschätztes Ausnahmeorgan, sagt die Ärztin Guilia Enders, Autorin des Bestsellers „Darm mit Charme“. Verantwortlich für die häufig lebensrettenden Abwehrkräfte des acht Meter langen Darms sind 100 Billionen unterschiedlichster Bakterien, die sich im Verdauungstrakt zu einem Mikrobiom vernetzen, einem überaus empfindlichen eigenständigen Ökosystem. Klappt es mit der gebotenen Vielfalt und dem Zusammenspiel der bis zu 1000 Bakterienarten, können uns Infekte kaum etwas anhaben. Mediziner lernen während ihrer Ausbildung leider viel zu wenig darüber, kritisiert Enders.

Doch der Darm kann noch mehr. „Er besitzt einen ganzen Fuhrpark an verschiedenen Signalstoffen, Nervenisolationsmaterialien und Verschaltungsarten. Es gibt nur ein Organ, das ebenfalls eine so große Vielfalt besitzt – das Gehirn.“ Mit dieser Luxus-Ausstattung managt der Darm bei weitem nicht nur den Transport von Abfallprodukten aus der Nahrung. Seine Signale beeinflussen bestimmte Regionen des Gehirns und damit auch die Verarbeitung von Gefühlen, von Angstempfinden, Gedächtnis, Moral oder Motivation. Grund genug, um in der Wissenschaft von einem „zweiten Gehirn“ zu sprechen.

In einem gut funktionierenden Verdauungstrakt wird eine Menge beruhigender und stimmungsaufhellender Hormone gebildet. Der Darm ist Hauptproduzent des Serotonins, des sogenannten „Glückshormons“. Ist sein Ökosystem aus der Balance, wirkt sich das auf die Psyche aus. Die amerikanische Ärztin und Neurologin Kelly Brogan sieht im Darm den „überraschenden Auslöser von Depressionen“. Brogan zufolge entstehen diese vor allem aufgrund chronischer Entzündungsprozesse, die sich auf ein gestörtes Wechselspiel zwischen Gehirn und Darm zurückführen lassen.

Man darf sich das dann aber nicht so vorstellen, dass „jede unzerkaute Erbse im Gehirn mitmischt“, erklärt Guilia Enders. Chronischer Stress gilt beispielsweise als einer der Hauptfeinde einer gesunden Darmflora. Bakterien, die mit der stressbedingt veränderten Hormonsituation, etwa hohen Cortisolwerten, gut klarkommen, vermehren sich unter Dauerbelastung besonders erfolgreich. Das entstehende Ungleichgewicht sorgt für ein schlechtes Bauchgefühl, für Schmerzen und trübe Stimmung.

Die westliche Ernährung mit viel tierischen Fetten, Fertigprodukten und Zucker fördert das Wachstum von Bakterienarten, die ihrerseits Übergewicht, einen gereizten Darm und eine geschwächte Immunabwehr begünstigen. Was der Darm dagegen liebt, weil es zu einem ausgewogenen Bakterienstatus führt, sind präbiotische Ballaststoffe, die Bakterien gut verstoffwechseln können – etwa aus Gemüsen wie Spargel, Zwiebeln, Kartoffeln oder auch Chicorée. Vor allem aber freut sich das komplexe Organ über Bewegung – täglich eine halbe Stunde spazieren gehen bringt schon viel. Und empfehlenswert ist auch eine regelmäßige Yogapraxis, die den Darm nicht nur über entsprechende Übungen beeinflusst, sondern auch noch dabei helfen kann, das ungesunde Stresslevel abzusenken.

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