Essen mit Verstand

Als Laie aus der Masse an Ernährungsstudien Rückschlüsse für den Alltag zu ziehen, ist keine gute Idee. So bekommen Sie den Überblick.
Illustration: Karen Obenauf
Sina Horsthemke Redaktion

Zehn Millionen – so viele Menschen starben im Jahr 2016 an den Folgen ihrer Essgewohnheiten. Nicht etwa, weil sie zu wenig aßen, im Gegenteil: Sie aßen das Falsche und davon zu viel. Denn das Sterberisiko, so geht aus der weltweit größten Ernährungsstudie „Global Burden of Disease“ hervor, steigt bei jenen, die sich nicht gesund genug ernähren.


Weil das durchschnittliche Essverhalten in den westlichen Industrienationen nicht nur das Körpergewicht ansteigen lässt, sondern ebenso den Blutdruck, den Blutzuckerspiegel und die Cholesterinwerte, ist es eine ernst zu nehmende Gefahr für die Gesundheit. Schließlich gehören alle vier zu den größten Risikofaktoren für einen vorzeitigen Tod. Auch bei uns Deutschen: Aufgrund unserer schlechten Ernährung haben wir unter den Westeuropäern die niedrigste Lebenserwartung und mit das höchste Körpergewicht.


Gesundheit und Krankheit hängen unmittelbar mit der Ernährung zusammen. Doch wie geht das nun, sich gesund zu ernähren? Wer morgens die Zeitung aufschlägt, findet darin fast täglich einen neuen Ratschlag: Vor einigen Jahren waren die Frühstückseier schuld am Cholesterin, heute gelten sie als zu Unrecht verteufelt. Nicht nur Eier waren in aller Munde. Nüsse schützen vor Krebs, hieß es einmal in fast allen Medien, oder: Schokolade macht schlau, Granatäpfel halten das Altern auf, Rosmarin hilft dem Gedächtnis. Und Weinliebhaber freuten sich im vergangenen Jahr über die Nachricht, dass Resveratrol aus einem guten Roten wirke wie ein Anti-Aging-Mittel.


Was von solchen Schlagzeilen zu halten ist, hat die Stiftung Warentest mit dem belgischen Zentrum für Evidenzbasierte Medizin (CEBAM) analysiert: nichts. In dem gemeinsamen Buch „Schokolade macht schlau und andere Medizinmythen“ heißt es über die Arbeit der US-amerikanischen Wissenschaftler, deren Wein-Experiment ein Tierversuch war: „Um die Dosis zu erreichen, bei der ein Effekt an Mäusen nachgewiesen wurde, müsste ein Mensch täglich mindestens 2.000 Liter Rotwein trinken.“ Das wäre nicht verjüngend, sondern ziemlich tödlich.


Dass uns neue Ess-Erkenntnisse zu überschwemmen scheinen, sie immer wieder falsch interpretiert werden und sich zudem gegenseitig widersprechen, hat einen einfachen Grund: Ernährungsstudien sind öfter in den Medien als andere wissenschaftliche Arbeiten. Denn wir alle müssen essen. Ernährung betrifft jeden – es gibt kaum jemanden, der sich nicht dafür interessiert. Das führt dazu, dass auch kleine Studien mit wenig Aussagekraft viel Aufmerksamkeit bekommen – mitunter in Form reißerischer Schlagzeilen.


„Widersprüchliche Daten gibt es auch in anderen wissenschaftlichen Bereichen“, sagt Prof. Dr. Bernhard Watzl, Leiter des Instituts für Physiologie und Biochemie der Ernährung am Max Rubner-Institut. „Nur wird über Quantenphysik nicht so viel berichtet wie über Ernährung.“ Um von nackten Daten zu alltagstauglichen Aussagen zu gelangen, müsse man systematisch vorgehen, erklärt der Ernährungswissenschaftler. „Medien heben Einzelstudien hervor. Ich schaue mir nie nur eine Studie an, denn das hilft dem Verbraucher nicht.“ Erst anhand von Metastudien auf Basis zahlreicher Experimente – an Menschen – ließen sich „klare Aussagen machen“.


Was ebenfalls viele missverstehen: Korrelationen sind keine Kausalitäten. Wenn jemand, der Nüsse isst, länger lebt, dann muss das nicht an den Nüssen liegen. Dann ist er möglicherweise gesünder, weil er wegen der vielen Nüsse weniger rotes Fleisch verzehrt und zufällig Nichtraucher ist. Rotes Fleisch sei ein gutes Beispiel für Fehlinterpretationen, sagt Ernährungsexperte Watzl: „In großen Mengen ist es nicht gesund, das stimmt. Wer jedoch viel Fleisch isst, isst automatisch weniger Gemüse und Ballaststoffe.“ Es liegt also nicht nur am Fleisch, wenn ein Steakliebhaber an Darmkrebs stirbt, sondern auch an dem, was er alles nicht gegessen hat, weil er vom Fleisch schon satt war.


„Ernährung wirkt nie in Form eines einzelnen Lebensmittels, sondern immer als Ernährungsstil“, resümiert Watzl. Und welcher richtig sei, das stehe schon seit 50 Jahren fest. Institutionen wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) oder das Bundeszentrum für Ernährung hätten die Daten der Wissenschaftler längst für uns in den Alltag übertragen, und das Bild sei bis heute klar: „Wir sollten weniger tierische Lebensmittel zu uns nehmen, jeden Tag fünf Portionen Gemüse und Obst essen sowie den Großteil des Getreides aus Vollkorn beziehen. Daran hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert, und das ist auch richtig so“, so Watzl.


Einer, der zu ähnlichen Erkenntnissen kam, ist der Journalist Bas Kast. Nachdem er als 40-Jähriger beim Joggen mit Schmerzen in der Brust zusammenbrach, stellte der Biologe, der bis dahin Schokolade zum Frühstück und Chips zum Abendessen verzehrt hatte, seine Ernährung um. Um herauszufinden, was denn nun gesund ist, setzte er sich zuvor akribisch mit den Datenbergen der Ernährungswissenschaftler auseinander. Heraus kamen sein Buch „Der Ernährungskompass“ und Ernährungstipps, die ungefähr denen von Watzl entsprechen: „Essen Sie möglichst unverarbeitete Nahrungsmittel. Machen Sie Pflanzen zu Ihrer Hauptspeise. Essen Sie Fisch statt Fleisch, bevorzugen Sie fermentierte Milchprodukte, minimieren Sie Zucker, haben Sie keine Angst vor Fett, und genießen Sie!“ Kast empfiehlt zudem, zwischen acht Uhr abends und acht Uhr morgens zu fasten, sich eher an Eiweiß statt an Kohlenhydraten satt zu essen und als Fettquellen Nüsse, Fisch, Olivenöl, Rapsöl, Kerne und Samen vorzuziehen.


Den wohl wichtigsten Rat für alle Ernährungsinteressierten hat jedoch die Stiftung Warentest: „Nutzen Sie Ihren gesunden Menschenverstand.“ Und fragen Sie sich, wenn Sie das nächste Mal die Zeitung aufschlagen: „Können Menschen wirklich schlauer werden, wenn sie Schokolade essen?“

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Prof. Dr. med. Dipl.-Chem. Elke Holinski- Feder ist Geschäftsführerin und Fachärztin  für Humangenetik im MGZ – Medizinisch Genetisches Zentrum München.
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Ich bin 51 Jahre und habe Darmkrebs. Ich weiß jetzt, dass es erblich ist und was es bedeutet. Ich weiß auch, dass es meine Kinder nicht geerbt haben.