Wie viel Digitalisierung brauche ich?

Sie sind mittelständischer Unternehmer und der Begriff „Digitalisierung“ löst bei Ihnen Fluchtreflexe aus? Kein Wunder, schließlich ist kaum ein anderer Begriff in den vergangenen Jahren derart abgenutzt worden. Entspannen Sie sich!
Illustration: Heike Steenwarder
Illustration: Heike Steenwarder
Mirko Heinemann Redaktion

Wir führen Sie durch den Buzzword-Dschungel – und Sie entscheiden, wie weit Sie gehen wollen.
 

Wenn Internetgurus oder Politiker irgendwo auf einer Bühne stehen und es geht um die Digitalisierung der Wirtschaft, dann ist auf eine Grundaussage Verlass: Der Mittelstand ist in Gefahr! Deutsche Wertarbeit kann ihren Qualitätsvorsprung nicht mehr lange aufrechterhalten, sie droht abgehängt zu werden im globalen Wettbewerb. Und Deutschland, Heimstatt zahlreicher Weltmarktführer, rutscht in die Rezession. Dies alles wird geschehen, wenn die KMU, die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden, sich nicht endlich „digitalisieren“.

Lassen wir es erstmal so stehen. Aber vorab dies: Niemand braucht einem erfolgreichen Mittelständler zu erzählen, dass Nichtstun sein Geschäftsmodell gefährdet. Jeder Selbstständige, und das beginnt schon beim Ein-Mann-oder-Frau-Betrieb, weiß intuitiv, dass er sich und sein Unternehmen ständig neu erfinden muss, wenn er es langfristig erfolgreich betreiben will. Insofern gehen wir davon aus, dass jeder Mittelständler sich schon mit dem Gedanken beschäftigt hat, digitale Technologien in seine Wertschöpfungskette zu integrieren. Nur: Wo fängt man an? Die folgende Buzzwordfibel soll zeigen, welche Möglichkeiten die Digitalisierung bietet und was man damit machen kann. Was davon dem Mittelständler nützt, das kann er selbst am besten entscheiden.
 

Cloud

Benutzen Sie einen Computer? Dann haben Sie schon den entscheidenden Schritt gemacht. Wahrscheinlich ist er sogar mit dem Internet verbunden, eventuell nutzen Sie sogar schon die Dropbox, die iCloud oder einen anderen externen Datenspeicher, auf dem Sie Ihre Fotos, Musik oder Ihre persönlichen Daten speichern. Wer keine eigene ITK-Infrastruktur vorhalten will, kann mit der Cloud eines externen Anbieters ein umfängliches Digitalisierungsprojekt beginnen. In der Cloud kann die gesamte IT-Infrastruktur eines Unternehmens liegen, Speicherplatz, Rechenleistung, aber auch Software. Man spart sich aufwendige und branchenfremde IT-Abteilungen und kooperiert stattdessen mit externen IT-Experten. Vorteile für Unternehmen: Sie können sich die Kosten für Großserver sparen, Kapazitäten lassen sich schnell anpassen und skalieren.


Rechenzentrum

Bei der Wahl des richtigen Cloud-Anbieters ist die Lage des Rechenzentrums wichtig. Daten, die etwa auf einem Server in den USA gespeichert werden, unterliegen nicht den strengen europäischen Datensicherheitsgesetzen. Der Bundesverband IT-Sicherheit hat hierfür das Vertrauenszeichen „IT Security made in Germany“ entwickelt, das durch den Rat für Formgebung und das German Brand Institute mit dem German Brand Award ausgezeichnet wurde.


Industrie 4.0


Besitzen Sie in Ihrem Betrieb Bohr- oder Fräsmaschinen? Oder handelt es sich sogar um CNC-Maschinen? Dann sind Sie schon bereit für die „Industrie 4.0“. Denn der Begriff besagt nur, einen Schritt weiterzugehen. Nach Dampfmaschine (Industrie 1.0), Fließband (2.0) und Elektronik mit ihren ersten digitalen Anwendungen (3.0) folgt jetzt die Vernetzung der Maschinen – und der Produkte. Intelligente, selbstlernende und vernetzte Systeme übernehmen die Produktion weitgehend autonom und optimieren sie selbstständig. Alle Teile der Wertschöpfungskette, vom Design über die Fertigung bis zur Auslieferung an Kunden, können miteinander verbunden werden, sie kommunizieren und kollaborieren. Moderne Roboter sind nichts anderes als CNC-Maschinen, nur weitaus intelligenter und ausgestattet mit einer weit komplexeren Programmierung. Das hilft Betrieben, die eine große Vielfalt an Produktvarianten anbieten wollen. In der Konsequenz gibt es immer mehr hochautomatisierte, vernetzte Produktionssysteme bis hin zu Montagelinien, die sich autonom an die jeweils zu fertigende Produktvariante anpassen.


Smarte Fabrik

Intelligenz, Vernetzung und Kollaboration – das sind die drei entscheidenden Merkmale von Handlingsystemen für die smarte Fabrik. Vorhandene CNC-Maschinen lassen sich im einfachsten Fall via DNC integrieren: Die Daten werden von einem Server direkt an die CNC-Maschine und zurück gesendet. Die Maschinen können über die Cloud vernetzt und somit die gesamte Produktion vom Auftragseingang bis zur Auslieferung gesteuert und kontrolliert werden.


Internet der Dinge

Ein Buzzword, das mit der raketenhaften Entwicklung der Sensorik und dem mobilen Internet einhergeht. Sensoren bestimmen Temperatur, Drücke, messen Abnutzung, intelligente Kameras zählen Bauteile in Kanban-Behältern und kommissionieren automatisch nach. Sensoren stecken in Aufzügen, wo sie Messdaten erheben, aus denen ein nahender Ausfall prognostiziert werden kann, sie messen Temperatur und Stöße in Containern, sie messen Abstände zum vorausfahrenden Fahrzeug und erkennen Fußgänger auf der Straße. Den Kontakt zum Zentralrechner halten sie in der Regel über eine Mobilfunkverbindung. Schon heute sind wir von Millionen vernetzter Gegenstände umgeben. Der Aufbau der ultraschnellen 5G-Frequenzen wird einen weiteren technologischen Sprung nach sich ziehen.


Rapid Prototyping

Mit dieser Methode, die im Wesentlichen auf die Technologie des 3D-Drucks zurückgreift, können Unternehmen das Versuchsmodell eines neuen Produkts erstellen. Großunternehmen nutzen bereits diese Form der virtuellen Modellherstellung, um neue Produkte zu präsentieren und auf Herz und Nieren zu prüfen, bevor sie in die industrielle Fertigung gehen. Das spart Entwicklungskosten und reduziert das Risiko von Fehlschlägen.

Cybercrime

Eine gruselige Wortkonstruktion, aus der die Angst vor einer Übernahme der Weltherrschaft durch Kriminelle zu sprechen scheint. In der Tat sind vernetzte Systeme, besonders wenn sie über das Internet kommunizieren, anfällig für Angriffe von außen. Der Bundesverband für IT-Sicherheit Teletrust warnt vor „verteilten, raffinierten und professionellen Angriffen“, die Milliardenschäden anrichten. IT-Kriminalität erfahre eine zunehmende Industrialisierung und damit eine nicht zu unterschätzende und nie dagewesene professionalisierte Nachhaltigkeit, so der Verband. Der Digitalverband Bitkom empfiehlt ein robustes IT-Sicherheitsmanagement mit „gut geschulten Mitarbeitern“. Wer sich dies im Zeitalter des Fachkräftemangels nicht leisten will oder kann, greift auf externe Anbieter zurück (siehe „Cloud“).  


DSGVO

Die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) hat im vergangenen Frühjahr das Bundesdatenschutzgesetz abgelöst – und einige Verunsicherung produziert. Auf die Unternehmen sind viele Neuerungen zugekommen, in vielen Firmen sind Prozesse immer noch in der Überprüfung und müssen angepasst werden. Welche „geeigneten technischen und organisatorischen Maßnahmen“ genau die Unternehmen nun ergreifen müssen, um Datenschutz und Datensicherheit zu gewährleisten, wird in der DSGVO nicht genauer definiert. So wenige Daten wie möglich sollen erhoben werden, so schnell wie möglich sollen sie pseudonymisiert werden. Die Unternehmen sollen in einem Verfahrensverzeichnis ihre internen Prozesse für die Verarbeitung personenbezogener Daten dokumentieren. Eine solche Datenschutz-Dokumentation wird in Streitfällen eine wichtige Rolle spielen. Wenn das Geschäftsmodell im Kern auf der Verarbeitung personenbezogener Daten beruht, besteht eine Verpflichtung zur Bestellung eines betrieblichen Datenschutzbeauftragten.


Künstliche Intelligenz

Ein Begriff, der nach Meinung von Kognitionsforschern die Wirklichkeit verzerrt. Maschinen sind nicht in-elligent und werden es auf absehbare Zeit nicht sein, jedenfalls nicht im Sinn einer menschlichen Intelligenz, die Abstraktionsvermögen und kreatives Denken ermöglicht. Wenn Informatiker von Künstlicher Intelligenz, KI oder alternativ AI (Artificial Intelligence) sprechen, meinen sie in der Regel selbstlernende Systeme. Deren Algorithmus, also der Programmcode, ist in der Lage, Daten zu analysieren und sie einzuordnen, sodass die Maschine ihre Aufgabe immer präziser erledigt.
So kann sie Empfehlungen zur Optimierung von Geschäftsprozessen geben, Lieferketten optimieren oder Verkehrsstaus prognostizieren.


Predictive Maintenance

Die Berechnung von Prognosen auf Basis statistischer Algorithmen ist ein Beispiel für eine KI-Anwendung: Aus Sensordaten, gepaart mit Erfahrungswerten, errechnet die Künstliche Intelligenz die Ausfallwahrscheinlichkeit einer Maschine. Je mehr Daten vorhanden sind, desto präziser kann sie den Zeitpunkt in der Zukunft berechnen, an dem ein Bauteil oder eine Maschine höchstwahrscheinlich ausfallen wird.
 

Start-ups

Junge Unternehmen mit frischen Ideen sind die Treiber des digitalen Wandels. Was ihnen fehlt, ist allerdings das Fachwissen in Sachen Fertigung, Kundenanforderung, Aufbau einer Produktionslinie. Dafür kennen sie sich mit den neuen Technologien aus und können deren Potenzial für das jeweilige Geschäftsmodell einschätzen. Für mittelständische Unternehmen kann es überaus lohnend sein, mit Start-ups zu kooperieren. Laut Umfrage des Digitalverbands Bitkom sind es im Augenblick aber vor allem Großunternehmen, die mit jungen Tech-Unternehmen zusammenarbeiten. Zwei Drittel der Mittelständler haben überhaupt keinen Kontakt zu ihnen. Dabei würden sie offene Türen einrennen: Die große Mehrheit der Start-ups ist interessiert an einer Zusammenarbeit.


Disruption

Alt hergebrachte Geschäftsmodelle werden auf eine Internetplattform verlagert und auf diese Weise überflüssig gemacht. So wandern Teile des Procurements sukzessive ins Internet ab, Transportdienstleistungen, Buchungs- oder das Rechnungswesen. Angeschlossene Dienste werden integriert. Hoch spezialisierte Mittelständler müssen indes keine Angst vor Disruption haben. Anders als bei Dienstleistungen ist das Know-how das große Pfund produzierender Unternehmen. Der Qualitätsvorsprung der deutschen Industrie ist enorm. Er beruht auf Präzision, Innovation und einem einzigartigen Ausbildungs- und Qualifizierungssystem, das die weltweit besten Spezialisten hervorbringt.