Tag der Einheit

Seit fast 30 Jahren ist Deutschland wieder vereint. Dem Land geht es so gut wie nie zuvor. Dennoch wachsen Verunsicherung, Intoleranz und Rassismus. Warum?
Illustration: Ivonne Schulze
Mirko Heinemann Redaktion

Mirko Heinemann / Redaktion

Der 3. Oktober ist ein Tag der Freude – oder? Am 3. Oktober 1990 sind Ost- und Westdeutschland, sind die DDR und die BRD, ein gemeinsames Land geworden. Nach über 40 Jahren Teilung der Staaten und Trennung von Familien und Freunden war man wieder zusammen, in einem gemeinsamen Staat mit einer freiheitlich-demokratischen Verfassung. Es waren vor allem die Bürger der DDR, die mit ihrer friedlichen Revolution und mit den anschließenden freien Wahlen diesen Weg frei gemacht haben. Die Phase vom Mauerfall am 9. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990, dem Tag der Vereinigung, nehmen viele Zeitzeugen im Rückblick als rauschhafte Zeit wahr, die in einem riesigen Fest mündete.

Ein Vierteljahrhundert später hat sich eine gewisse Katerstimmung eingestellt. Den Tag der Einheit ausgelassen zu feiern, ist nicht mehr recht vorstellbar. Stattdessen hat das Meinungsforschungsinstitut Allensbach in der Generation der 30- bis 59-Jährigen ein ungutes Gefühl ausgemacht: „Wenn die mittlere Generation das gesellschaftliche Klima beschreibt, dann hat man das Gefühl, sie fröstelt“, erklärte die Allensbach-Chefin Renate Köster der ARD. Obwohl fast die Hälfte angibt, es gehe ihnen finanziell besser als vor fünf Jahren, sage nur ein Drittel: Wir leben in glücklichen Zeiten. Ganze 42 Prozent sagen sogar: „Die Zeiten sind ausgesprochen schwierig.“ Die „Generation Mitte“ fürchtet einen Werteverfall. Für Pessimismus sorge immer mehr Materialismus, mehr Vorbehalte gegenüber Ausländern, eine zunehmende Rücksichtslosigkeit, weniger Hilfsbereitschaft, weniger Zusammenhalt in der Gesellschaft und weniger Bereitschaft, Regeln zu akzeptieren.

Demonstrationen wie in Chemnitz, auf denen Teilnehmergruppen sich gebärden wie die SA in der Nazizeit, tragen ihren Teil dazu bei, die Feierstimmung zu vermiesen. In Deutschland ist die AfD derzeit zweitstärkste und in manchen Regionen Ostdeutschlands die stärkste Kraft – eine Partei, deren Führer den Nationalsozialismus verharmlosen und auf Flüchtlinge schießen lassen würden.

Und das in Deutschland. Einem global ausgerichteten Wirtschaftsstandort, in dem beinahe Vollbeschäftigung herrscht – die Wachstumslokomotive Europas. Neidvoll blickt die ganze Welt auf die Errungenschaften „Made in Germany“: eine gefestigte Demokratie, die Meinungsvielfalt zulässt und innere Konflikte offen benennt. Auf den Erfindungsreichtum, den erfolgreichen Mittelstand, das friedliche Zusammenleben der Kulturen.

Die Deutschen, so denken viele Beobachter in der ganzen Welt, haben mit der Bewältigung ihrer Wiedervereinigung besondere Kompetenzen erworben. Am 3. Oktober 1990 begann für mehr als 60 Millionen Bundesbürger im Westen und 16 Millionen im Osten eine riesige Herausforderung. Sie waren aufgerufen, die innere Einheit herzustellen. Das bedeutete nichts weniger, als Menschen und Bedingungen auf der jeweils anderen Seite zu begreifen, zu deuten und sich in eine neue Zeit zu integrieren: Wohlhabende und Bedürftige, Ausgebildete und Ungelernte, Flexible und Starrsinnige. Christen, Moslems, Juden, Atheisten, Rheinländer, Sachsen und Niedersachsen, bajuwarische, suebische, slawische und dänische Minderheiten. Einwanderer aus vielen Jahrzehnten und Gäste aus der ganzen Welt.
Es ging durch Phasen von Euphorie und tiefe Täler. In Ostdeutschland gingen Zigtausende Arbeitslätze verloren. Viele verließen ihre Heimat und zogen in blühendere Landschaften um. Andere haben sich neu erfunden, etwas aufgebaut. Es waren harte Zeiten, im Osten wie im Westen. Wer erinnert sich nicht an das Gefühl, am Abgrund zu stehen, als 2005 die Arbeitslosenquote auf die 12 Prozent zulief? Damals begannen Nachbarn mit dem Sammeln von Pfandflaschen, andere wühlten in Mülltonnen auf der Suche nach Essbarem, nach Kleidung oder brauchbaren Gegenständen.  

Das wollen wir nicht wieder erleben. Oder? Mit solchen Konnotationen spielen die Populisten. Sie schüren die Angst vor dem sozialen Abstieg, die Angst vor Kriminalität, die Angst vor dem Fremden. Dass rechtsradikale Krakeeler ihre dumpfen Parolen scheinbar ungestört wieder verbreiten können, ist dabei der vielleicht größte Kollateralschaden. Es reicht nicht, sich zu vergewissern, dass die Demokraten in der Überzahl sind. Ich empfehle an dieser Stelle die Lektüre von Zeitzeugenberichten aus der Nazizeit. Etwa die Erinnerungen des verstorbenen Verlegers Joachim Fest an seinen Vater, der sich dem Mitläufertum verweigerte: „Ich nicht“. Sie zeigen eindringlich, wie die Mehrheit mit ihrem stillschweigenden Abwarten die Macht der Nazis gestützt hat. Es wird ja wohl nicht so schlimm kommen, haben damals viele gedacht – es kam zum Schlimmsten.

Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, hat die Gefahr deutlich benannt. Wohlstand und Arbeitsplätze hingen in großem Maße von der Offenheit Deutschlands ab, so Schweitzer bei einem Empfang in Berlin. Fremdenfeindlichkeit sei eine Gefahr für Wohlstand und Arbeitsplätze, verbale und physische Gewalt verböten sich. Wenn sie sich schon nicht aus Menschlichkeit verböten. Aber Menschlichkeit hat derzeit keinen guten Stand.

Kritik an der herrschenden Politik ist kein Verbrechen. Aber wenn – wie jüngst wieder geschehen – Kollegen und Freunde in aller Öffentlichkeit angegangen werden, dann ist das hinzunehmende Maß in jeglicher Hinsicht überschritten. Man muss es deutlich sagen: Wenn Menschen angefeindet werden, weil sie angeblich nicht in den „deutschen Kulturkreis“ gehörten, dann müssen alle anderen aufstehen und ihre Stimme erheben. Ein Klima der Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtspopulismus wird zu einer Gefahr für uns alle. Dass Rechtsradikale unser Land kaputtmachen, dürfen wir nicht zulassen. Deutschland ist ein weltoffenes Land! Wer „Zukunft Deutschland“ will, sollte sich dafür stark machen, dass es so bleibt.

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