Verdrehte Zeiten

Aktienrallye trotz Brexit. Unsicherheit trotz robuster Wirtschaftsdaten. Wenn nur die Volatilität an den Märkten nachvollziehbar wäre! Die Hoffnung ist langfristig. Sie liegt in den Fundamentaldaten.
Verdrehte Zeiten
Illustration: Heike Schelletter
Mirko Heinemann Redaktion

Man reibt sich die Augen: An den Börsen spielt sich eine Herbstrallye vom Feinsten ab. Die Tech-Aktien, Apple, Facebook, Google, wie im Rausch. Russland, Argentinien und Brasilien rappeln sich hoch. China zeigt wieder Wachstum. Selbst der behäbige Dax scheint trotz starker Volatilität wieder gen 11.000 Punkte-Marke zu stolpern.

Was ist da los?

Spukte nicht gerade noch das Gespenst des Brexit durch die Börsensäle und sorgte für verzagte Gesichter? Geht unter Deutschen nicht die Angst vor Wohlstandsverlust um, was sich an den Wahlurnen mit dem Zulauf zur AfD zeigt? Und was, wenn FED-Chefin Janet Yellen ihre Zinskeule schwingt? Oder wenn gar der demagogische Kandidat Trump am Ende die Präsidentschaft erringt? Die Börse ist vor allem Psychologie, wissen Börsianer. Wer sie ergründen will, muss die Sorgen und Nöte der Anleger verstehen. Und dann abwägen, inwieweit der aktuelle Boom fundamental begründet ist oder so etwas wie das Aufbäumen eines sterbenden Elefanten.

Versuchen wir´s also, zunächst mit einem Blick vor die eigene Haustür. Der deutschen Wirtschaft geht es gut, trotz der Unken aus dem rechten Lager. Laut Wachstumsprognose der staatlichen KfW-Bank ist die ökonomische Entwicklung in Deutschland weiterhin robust. Die Förderbank hob kürzlich sogar ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr an. Nach dem Brexit-Votum hatte sie die Konjunkturprognose bei 1,5 Prozent angesetzt, vor kurzem erfolgte die Erhöhung auf 1,8 Prozent. Grund dafür ist das besser ausgefallene Wachstum im zweiten Quartal von 0,4 Prozent gegenüber dem Vorquartal.

Im September sprang auch noch der Ifo-Geschäftsklimaindex mit einem großen Satz nach oben. Dem Index liegt eine Umfrage unter 7.000 Unternehmensverantwortlichen zu der aktuellen Lage und zu ihren Geschäftserwartungen zugrunde. „Die deutsche Wirtschaft erwartet einen goldenen Herbst“, so Ifo-Präsident Clemens Fuest. Auch die KfW sieht eine gute zweite Jahreshälfte voraus. Ausschlaggebend: der Konsum. „Die robuste Verfassung der deutschen Wirtschaft spricht für ein Andauern der guten Binnenkonjunktur“, so Jörg Zeuner, Chefvolkswirt der KfW Bankengruppe. Für das kommende Jahr sieht die KfW gute Anzeichen für weiteres Wachstum, sobald die „unmittelbaren Auswirkungen des Brexit-Votums abgeklungen“ seien, so Zeuner. Die Förderbank hebt daher ihre Prognose für das nächste Jahr um 0,1 Prozent auf nun 1,3 Prozent an.

Die 900.000 Flüchtlinge, denen Deutschland im vergangen Jahr Schutz gewährte, konnten der Konjunktur nichts anhaben, im Gegenteil: Von einem „wesentlichen Treiber“ für die Binnenkonjunktur gar sprach Ferdinand Fichtner, Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW. Denn die öffentlichen Ausgaben in diesem Zusammenhang flossen komplett in die lokale und regionale Wirtschaft zurück. Weitere Faktoren: die kräftige Arbeitsmarktentwicklung und die steigenden Löhne.

Und wo liegt jetzt der Haken? Natürlich im Detail. In unschönen Ausprägungen der politischen Psychologie, die sich auf die „Behavioural Finance“, die Psychologie der Börse, mittelbar auswirken. Da wäre etwa die Zerstrittenheit der Europäischen Union in der Frage der Verteilung der Flüchtlingsströme. Der Streit scheint jetzt zwar erst einmal eingedämmt. Doch es zeigt sich, wie stark Positionen innerhalb der EU auseinander- klaffen. Und, dass es denkbar ist, dass einzelne Staaten wieder Grenzkontrollen in Europa einführen. In der Folge würde die europäische Wirtschaft heftige Einbußen hinnehmen müssen, davon sind Ökonomen überzeugt. Die stark exportorienterte deutsche Wirtschaft wäre am heftigsten betroffen.

Dazu kommt die Verunsicherung aufgrund der Terroranschläge in Frankreich, Belgien und Deutschland sowie die wachsende Skepsis im Ausland aufgrund des europaweiten Erstarkens der rechtsradikalen Positionen. In Deutschland ist der Aufstieg der AfD vor allem mit Blick auf die Bundestagswahlen im kommenden Jahr ein Grund zur Besorgnis.

Dass sowohl die Radikalisierung der Gesellschaft als auch die Unsicherheit nicht rein deutsche und schon gar nicht europäische Phänomene sind, zeigt der ungeahnt harte und in seinem Ausgang schwer absehbare Präsidentschaftswahlkampf in den USA. Die amerikanische Gesellschaft zeigt sich tief gespalten, unsicher und orientierungslos.

Wenn Trump mit Worten wie „Amerikanische Autos werden über die Straßen fahren, amerikanische Flugzeuge werden die Städte verbinden, amerikanische Schiffe werden über die Meere patrouillieren“ einen neuen Protektionismus ankündigt, schrillen bei den US-Anlegern alle Alarmglocken. Trotz lockerer Geldpolitik agieren sie vorsichtig, außerdem sind die Aussichten für die Wirtschaftsentwicklung für die USA widersprüchlich: Die Konjunkturexperten der Investmentbank HSBC erwarten zwar für 2017 in den USA ein Wachstum von 2,1 Prozent. Andere Ökonomen sehen Amerika aber an der Schwelle zur Rezession, unter anderem Donald Trump selbst. Der Unternehmer und Präsidentschaftskandidat hatte vor einigen Monaten der Washington Post erklärt, er befürchte, in den USA habe sich eine wirtschaftliche Blase entwickelt, die zu platzen drohe.

Da erscheinen die so genannten Schwellenländer wie Russland oder Brasilien geradezu als Hort der Stabilität. Sie haben ihre große Rezession bereits hinter sich. Die Anlegermärkte konnten sich seitdem  deutlich erholen, der Aufwärtstrend scheint ungebrochen. Zumal sich auch hier die Fundamentaldaten verbessern. Dazu kommen externe Faktoren, so haben sich die Rohstoffpreise stabilisiert. Das spricht für künftige Chancen für Schwellenländer, die Öl oder Gold fördern. Selbst für China erwarten Ökonomen zwar weiterhin hohe Volatilität, aber keinen Absturz. Wer sich mit dem Gedanken trägt, etwa mit Indexfonds auf die Emerging Marktes zu setzen, für den böte sich jetzt eine Gelegenheit.

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